A

ls Trix in die Schenke zurückkam, schlief Tiana schon. Der treue Hallenberry, der gähnend bei einem Kerzenstummel gegen den Schlaf angekämpft hatte,
öffnete ihm die Tür. »Tiana hat es geschafft, dass wir
morgen in die Delegation aufgenommen werden, klaro«,
murmelte er. »Und jetzt will ich schlafen.«
»Willst du denn gar nicht wissen, ob alles geklappt
hat?«, fragte Trix eingeschnappt.
»Wie hätte es denn nicht klappen können?«, wunderte
sich Hallenberry und ging zu dem Bett, in dem Tiana
schlief. »Du bist doch ein Zauberer!« Er blies die Kerze
aus und hatte offenbar die Absicht, zu seiner Schwester
ins Bett zu kriechen.
»He!«, rief Trix. »Lass sie schlafen! Komm zu mir!« »Trittst du mich auch nicht im Schlaf?«, fragte Hallenberry.
»Nein«, antwortete Trix und stellte den Orchideenstrauß für Tiana in ein Wasserglas.
»Ich dich schon, klaro«, sagte Hallenberry genüsslich.
»Wenn ich nicht rausfalle …«
So müde, wie Trix war, fragte er sich, ob er überhaupt bemerken würde, wenn Hallenberry ihn trat. Abgesehen davon fiel der Kleine in der Nacht von selbst
aus dem schmalen Bett und setzte seinen Schlaf auf dem
Boden fort. Trix bekam vage mit, wie die gute Annette
schimpfend durchs Zimmer flog und über Hallenberry
(der weiterschlief) eine Decke zurechtzupfte. Dann
wurde es sehr schnell Tag, Hallenberry wachte auf, beklagte sich über die Kälte, über Trix, der ihn aus dem
Bett geworfen hätte, und über eine Kakerlake, die über seine Hand krabbelte. Davon wachte Tiana auf und tröstete ihn.
Und dann hieß es für alle: aufstehen. Keiner von ihnen wollte frühstücken. Erst berichtete Trix, was er am gestrigen Abend erlebt hatte, dann Tiana: Dem wachhabenden Alchimisten seien die Gesichtszüge entglitten, sobald er die Worte Knisternde Wolke gehört habe, und schon ein paar Minuten später hatte sie vor einem der Gildemeister gestanden. Ihm hatte Tiana erzählt, sie sei zusammen mit einem Freund aus der Gilde der Alchimisten Dillons geflohen und jeder von ihnen kenne die Hälfte des Geheimnisses für das Feuerwerk. Nach kurzem Geplänkel waren sie übereingekommen, die beiden in die Delegation aufzunehmen. Sofort nach dem Empfang beim König müssten sie die Hauptstadtalchimisten dann in das Geheimnis einweihen.
»Haben sie denn nicht gemerkt, dass du ein Mädchen bist?«, fragte Trix.
»Die Alchimisten?« Tiana lachte. »Du kennst sie nicht. Ich hätte im Rock zu ihnen gehen können, mit langem Haar und einem Fächer in der Hand – wenn sie nur etwas über die Knisternde Wolke erfahren würden.« »Verstehe«, sagte Trix. »Wo treffen wir sie?« »Auf dem Schlossplatz. Sie haben vorgeschlagen, dass wir zu ihnen ins Gildehaus kommen. Aber da gibt es tiefe Verliese und sie haben ihre eigenen Folterknechte … da wollte ich sie lieber nicht in Versuchung führen.« Trix nickte ernsthaft. Fast alle größeren Gilden hatten Wachposten, ein Gefängnis und Folterknechte. Als schlimmste Wache der Stadt galt in Dillon zum Beispiel die der Konditorengilde. In ihren Verliesen sollten etliche Spione schmachten, die versucht hatten, das Geheimnis der nichtklebenden Marmelade oder der Pinienkerne mit Schokoladenfüllung herauszubekommen. In der Hauptstadt waren die Gilden am einflussreichsten, die rund um Festlichkeiten eine Rolle spielten: die Gilde der Schneider, die Gilde der Friseure, die Gilde der Sänger und Tänzer, die Gilde der Schauspieler und die Gilde der Artisten. Vermutlich hatte die Gilde der Alchimisten, die für Feuerwerke, bunte Farben und Papierschlangen verantwortlich war (die Herstellung von Konfetti war in den Händen der Gilde der Radmacher verblieben, schließlich war Konfetti rund und drehte sich, wenn es fiel), auch einen gewissen Einfluss.
»Gut gemacht«, sagte Trix. »Wollen wir dann los?« »Klaro!«, rief Hallenberry begeistert.
Trix und Tiana sahen ihn verwundert an.
»Was ist?« Hallenberry erstarrte. »Soll ich etwa hierbleiben?«
»Klaro«, sagte Tiana.
»Mach dich nicht lustig über mich!« Hallenberry war kurz davor, in Tränen auszubrechen. »Das ist nicht euer Ernst!«
»Doch«, sagte Trix. »Es wäre viel zu gefährlich! Außerdem können wir dich nicht für einen Alchimistenschüler ausgeben, so kleine Jungen werden nicht als Gesellen genommen.«
Auf Hallenberrys Gesicht legte sich ein Schatten unkindlichen Ernstes. »Verstehe«, sagte er. »Ihr habt mich nie für voll genommen. Ich war nur der lustige Gefährte für die Helden, ein kleiner Knirps mit der komischen Angewohnheit, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit ›klaro‹ zu sagen. Und jetzt störe ich euch bei euren Abenteuern! Also werft ihr mich einfach über Bord! Ich kann ja noch froh sein, dass ihr mich damals nicht zu den Schauspielern gegeben habt oder als Knappe zu Paclus! Aber ich habe gespürt, dass mein Schicksal in jenen Augenblicken an einem seidenen Faden hing!« Trix und Tiana sahen sich verlegen an.
»Hallenberry«, sagte Tiana zärtlich und umarmte den Jungen. »Du bist mein einziger Verwandter, du bist mein kleiner Bruder, und mir ist völlig egal, dass du nur mein Stiefbruder bist! Du hast mir geholfen, aus dem Palast zu fliehen, und gegen die Vitamanten gekämpft! Aber jetzt können wir dich nicht mitnehmen! Es gibt keine Möglichkeit, Ehrenwort!« Sie seufzte und breitete die Arme aus. »Versteh doch, es existiert da eine Kraft, der wir uns beugen müssen! Die Logik der Handlung! Nach dieser Logik darfst du nicht mitkommen. Wenn wir dich doch mitnehmen würden, würden uns alle auslachen!« »Verstehe«, sagte Hallenberry und senkte traurig den Blick.
»Deshalb musst du hier in der Schenke bleiben. Deshalb werden wir dir sagen, dass du … äh … etwas bewachen musst. Zum Beispiel die Reste dieses Sacks. Und deshalb wirst du ein braver Junge sein und hier auf uns warten, ja?«
»Würde es vielleicht zur Logik der Handlung passen, wenn ich eine Minute warte, mich dann aus der Schenke schleiche und euch heimlich folge?«, erkundigte sich Hallenberry.
»Ja.« Tiana nickte. »Aber ins Schloss würdest du doch nicht reinkommen. Du würdest wie ein Blödmann davor im Regen stehen und auf uns warten.«
»Das wäre allerdings ein sehr rührendes Bild!«, sagte Trix. »Ein kleiner Junge im strömenden Regen vor dem riesigen Königsschloss, wie er auf seine Schwester und seinen älteren Freund wartet. Die wollen und wollen nicht kommen. Irgendwann dämmert es, die Leute gehen nach Hause, und nur die kleine schmächtige Figur …« »Du entwirfst da ein völlig falsches Bild«, unterbrach ihn Tiana. »Es würden nämlich seine Stiefel durchweichen, er würde sich erkälten und sterben! Auf diese Logik können wir getrost verzichten!« Sie schüttelte den Kopf und wandte sich wieder an Hallenberry: »Mach, was wir sagen, sonst schließen wir dich ein! Aus dem Fenster würdest du nicht springen, denn du hast Höhenangst! Außerdem wärst du nicht so dumm!«
Damit war das Thema erledigt. Hallenberry setzte sich traurig ans Fenster, ohne sich auch nur von seiner Schwester und Trix zu verabschieden.
Auch Annette musste bei ihm bleiben. Wie jedes andere Zauberwesen wäre die Fee im Schloss sofort entdeckt worden.
»Keine Sorge«, sagte Tiana, als sie die Treppe hinuntergingen. »Erst ist er sauer, aber nachher verzeiht er uns.«
»Und wenn wir getötet werden«, bemerkte Trix, »bleibt er wenigstens am Leben.«
»Aber ja!«, rief Tiana. »Daran hatte ich gar nicht gedacht!«

Trix und Tiana waren zu früh. Von Regen – geschweige denn: strömendem Regen – konnte keine Rede sein, auch der gestrige Schnee war vollständig geschmolzen. Es war kalt und tiefe graue Wolken hingen über der Stadt – doch die Entwicklung des Wetters hätte besser zum Frühling gepasst.

»Wenn alles gut geht«, sagte Trix, »müssen wir die Hauptstadt einmal im Frühling besuchen. Dann soll es hier sehr schön sein.«

Tiana hatte jedoch offenbar keine Lust, solche Pläne zu schmieden. Vermutlich begriff sie erst jetzt, auf was sie sich eingelassen hatten. Eine Weile drückten sie sich vor dem Tor herum, dann kauften sie bei einem Straßenhändler je ein Glas heißen Wein mit Kräutern, sahen sich bei den Händlern die kolorierten Stiche an (ausgerechnet heute schienen vor allem finstere Sujets im Angebot: Der Tod der Verschwörer; Marcel wirft den verräterischen Baron ins Gefängnis; Blick auf das Zentrale Gefängnis an einem verregneten Abend). Schließlich schlugen die Glocken ein Viertel vor elf Uhr und die Delegation der Alchimistengilde erschien auf dem Schlossplatz.

Wie es das Protokoll verlangte, kamen sie zu Fuß und ohne Kopfbedeckung. Immer wieder reckten sie die Arme zum Himmel und priesen den König. An der Spitze des Zuges trugen die drei ältesten Alchimisten jeweils ein Symbol ihres Berufsstandes: der erste einen Beutel mit einem explosiven Pulver (auf dem Beutel stand in großen Buchstaben geschrieben: Nachbildung. Geht nicht in die Luft!), der zweite eine Rakete an einem Stab und der dritte eine Glasflasche mit purpurroter Farbe. Die Gesellen (einige hatten nicht mehr alle fünf Finger, andere trugen eine Binde vor einem Auge) warfen Böller nach allen Seiten.

Sicher, das Geknalle kündigte die Alchimisten an – mehr noch aber tat das der Geruch, dieser ätzende, widerliche Gestank nach Chemikalien, mit denen sie in ihren Werkstätten hantierten. In dieser Hinsicht konnten es nur die Latrinenreiniger mit den Alchimisten aufnehmen, deren Gilde das einmalige Recht besaß, dass der König sie nicht im Thronsaal empfing, sondern vor dem Schloss an der frischen Luft.

Tiana fasste Trix bei der Hand und zog ihn mit sich zu den Alchimisten. Der Alte mit dem Beutel voll explosiven Pulvers sah erst Tiana, dann Trix verstohlen an und wies einen jüngeren Alchimisten hinter ihm mit einem Nicken auf die beiden hin. Der knuffte einen ganz jungen Alchimisten, der jedoch schon völlig kahl war, dafür aber beachtliche bunte Flecken auf dem Kopf hatte. Der buntscheckige Alchimist winkte Tiana und Trix heran und bedeutete ihnen, sich hinter den Gesellen, die nur wenig älter waren als sie selbst, einzureihen.

Tiana schob sich direkt hinter den buntscheckigen Alchimisten, Trix blieb an ihrer rechten Seite. Jemand drückte Trix ein kleines Fass mit silbrigem Pulver in die Hand und Tiana eine Knatter am Stock, die sie drehen sollte. Was die Knatter mit den Alchimisten zu tun hatte, war Trix schleierhaft.

Je näher die Delegation der Schlossmauer kam, desto mehr lärmte sie. Die Böller explodierten, die bengalischen Feuer loderten, Knallerbsen sprangen übers Pflaster, Feuerschmetterlinge stiegen in die Luft. Die Gesellen schenkten den Frauen auf dem Platz Fässchen mit bunten Farben, den Männern Fläschchen mit Tinte, den Kindern Buntstifte. Kurz und gut, die Alchimisten taten alles, um die Herzen der Städter zu gewinnen.

Vor dem Tor zum Schlossgelände blieb die Delegation stehen. Der Königliche Majordomus ging den Alchimisten feierlich entgegen. Dabei folgte er einer alten Tradition, blickte stur auf den Boden und tat so, als sehe er niemanden. Er trug ein altmodisches Wams mit funkelnden Knöpfen, hatte einen prachtvollen Hut auf und hielt in der rechten Hand einen mit Schnitzereien verzierten Stock aus glänzendem Ebenholz.

»Die Untertanen wollen zu ihrem König!«, verkündete der Alchimist mit der Rakete am Stock mit schnarrender Stimme.

Der Majordomus ging am Tor entlang und tat so, als höre er nichts.
»Die Untertanen wollen zu ihrem König!«, wiederholte die ganze Delegation im Chor.
Abermals reagierte der Majordomus nicht.
Die drei ältesten Alchimisten hoben die Arme – und daraufhin rief die Delegation mit Verstärkung von den Schaulustigen auf dem Platz: »Die Untertanen wollen zu ihrem König!«
Hätten die Zuschauer die Delegation nicht unterstützt, wäre diese es nicht wert gewesen, zum König vorgelassen zu werden und seine Zeit zu stehlen. Aber natürlich unterstützte die Menge die Delegation immer. Schließlich bestand sie zur Hälfte aus den Frauen, Kindern und Angehörigen der Gildemitglieder.
Auf den dritten Ruf reagierte der Majordomus. Er hob den Kopf, sah die Alchimisten mit gespielter Verwunderung an und sagte: »Eins, zwei …«
»Drei, vier!«, antworteten die Alchimisten im Chor.
Der Majordomus schüttelte den Kopf, als habe er sich jetzt verzählt. »Eins, zwei …«, fing er noch einmal an.
»Drei, vier!«, antworteten die Alchimisten abermals.
»Wer da?«, fragte der Majordomus streng.
»Die Klügsten!«, antwortete einer der drei Ältesten.
»Die Kühnsten!«, rief der zweite.
»Die Geschicktesten!«, endete der dritte.
»Eins, zwei …«, fing der Majordomus wieder an, die Mitglieder der Delegation zu zählen.
»Wir sind nicht zu zählen!«, antworteten die Alchimisten.
»Drei, vier!«, fuhr der Majordomus unbeirrt fort.
»Wir haben Zeit!«, versicherten die Alchimisten.
Der Majordomus gebot ihnen mit theatralischer Geste zu schweigen. »Adlerauge und Elefantenbein, zum König lässt man Euch heut ein!«, skandierte er.
Die Alchimisten stampften auf der Stelle und riefen: »Eins, zwei, drei, vier! Drei, vier, eins, zwei!«
Unwillkürlich schloss sich auch Trix dem Rhythmus an. Das Tor wurde langsam und feierlich geöffnet, der Zug der Alchimisten marschierte dem Majordomus hinterher aufs Schlossgelände.
»Eins, zwei, drei, vier!«, schrien die Alchimisten aus voller Kehle. Sobald die Delegation hinterm Tor verschwunden war, wurde es wieder geschlossen. Die Alchimisten blieben vor dem Schloss stehen. Der Majordomus drehte sich zu ihnen um, ging zu den drei ältesten Alchimisten und begrüßte sie per Handschlag. Er lächelte, fragte sie etwas und erhielt eine Antwort. Der Rest der Delegation wartete geduldig. Der bunte Alchimist kratzte sich die Flecken auf seinem Glatzkopf. Der blaue Fleck juckte offenbar am stärksten. Irgendwann wurden die jüngsten Gesellen des Stehens müde und fingen an, sich zu balgen, bis sie von den älteren Gesellen ein paar Ohrfeigen bekamen.
Schließlich beendete der Majordomus das Gespräch mit den drei Ältesten und wandte sich der ganzen Delegation zu: »Verehrte Meister! Eine Minute Aufmerksamkeit! Seine Majestät ist heute in guter Stimmung aufgewacht. Am Vorabend hat er beim Kartenspiel zwei Goldtaler vom Finanzminister gewonnen, in der Nacht einen angenehmen Traum gehabt. Auch der Morgen verlief bestens. Seine Majestät hat sich erlaubt, heute plissierte Beinkleider zu tragen, ein weißes Leinenhemd und, solange Seine Majestät nicht empfängt, ein Barett mit Falkenfeder. Er hat befohlen, ihm den kurzen, lilafarbenen Umhang mit Hermelinbesatz umzulegen. Alle Vorzeichen deuten auf eine wohlwollende und freundliche Stimmung. Ihr habt gute Chancen, zu bekommen, was Ihr wollt!«
Die Alchimisten brachen in aufgeregtes Gemurmel aus.
»Zudem beabsichtigt Seine Majestät einige gemeine Verschwörer aufs Strengste zu bestrafen, nachdem er Euch empfangen hat«, fuhr der Majordomus fort. »Das bedeutet stets eine zügige und positive Entscheidung der Routineangelegenheiten. Jetzt bitte ich Euch, mir zu folgen! Im Schloss darf nicht gelärmt und nichts angefasst werden, auf Stühle und Sofas dürft Ihr Euch nicht setzen, auf den Boden weder spucken noch schnäuzen. Am Eingang erhalten alle große Filzpantoffeln, die über die Schuhe zu ziehen sind, damit das Parkett nicht beschmutzt oder zerkratzt wird. Und für die Jugend: Die Säle werden von versteckten Wachposten beobachtet. Sollte jemand etwas mitgehen lassen, wird er streng bestraft.«
Sofort verstummten die Gesellen. Die Alchimisten drängten zum Eingang, an dem Bedienstete schmutzige Pantoffeln von schier unglaublicher Größe verteilten. Natürlich gab es einen kleinen Stau, doch bereits fünf Minuten später folgten alle in übergestreiften Pantoffeln dem Majordomus durch die Gänge.
Wenn Trix bisher recht gelassen gewesen war, wurde er jetzt mit jedem Schritt nervöser.
König Marcel war gerecht, ganz ohne jede Frage.
Aber König Marcel war ein König, wie er sein musste. Und das bedeutete, dass er das Wohl des Staates über die Gerechtigkeit stellte.
Und wenn das Wohl des Staates es verlangte, dass nicht Solier und Gris zusammen herrschten, sondern Gris allein, war Marcel damit einverstanden. Wenn das Wohl des Staates es verlangte, Tiana dem Vitamanten zur Frau zu geben, tat Marcel das. Wenn das Wohl des Staates es verlangte, Sauerampfer und Ian (als Trix) zum Tode zu verurteilen, gab es für Marcel kein Zögern.
Einmal hatte Trix in den Chroniken alles über die Taten der großen Könige (womit natürlich vor allem Marcel der Vernünftige gemeint war) nachgelesen. Er war begeistert gewesen, dass Marcel der Vernünftige um des Wohls des Staates willen alte Freunde verbannt, einen Vertrag über ewige Freundschaft gebrochen, die Steuern in seiner Geburtsstadt angehoben, Verbrechern verziehen und viele andere Dinge gemacht hatte, die überhaupt nichts mit Gerechtigkeit zu tun hatten, es dem Staat aber erlaubten, groß und reich zu werden. Wer Unkraut jätet, zieht auch Setzlinge heraus!, hatte er gesagt. Freunde hat nicht das Königreich, Freunde hat nur der König. Die Macht steht nicht für die Gerechtigkeit, sondern auf ihr. Man erinnert sich nicht an das, was abgerissen wurde, sondern an das, was aufgebaut wurde. Diese und ähnliche Aphorismen Marcels hatten nie Trix’ Widerspruch herausgefordert.
Aber nun, unter all diesen Alchimisten – für die der heutige Tag keine größere Enttäuschung bringen konnte als die, dass der König das Verbot zur Herstellung von besonders lauten Feuerwerkskörpern nicht aufhob –, begriff Trix mit einem Mal, dass all diese weisen Worte, die vermutlich auch Marcel der Lustige kannte, sich bestens gegen ihn und Tiana verwenden ließen.
Und das gefiel ihm überhaupt nicht.
»Wird schon alles gut werden«, flüsterte ihm Tiana ins Ohr. Doch ihre Stimme klang, als beunruhigten sie die gleichen Gedanken.
Trix seufzte, nickte und lenkte sich mit den Bildern ab, die an den Wänden der Räume hingen, durch die sie kamen.
Es gab lustige Alltagsszenerien wie im Palast von Dillon (Gelage, Feiertage, Bälle) und Stillleben oder Schlachtengemälde. Warum auch immer, aber Landschaften überwogen. Die funkelnden Berge der Kristallenen Inseln, die heißen Wüsten Samarschans, die Schluchten und Täler der Grauen Berge, das klare blaue Wasser und die weißen Sandstrände der südlichen Inseln, grüne Wiesen und dichte Wälder an Orten, die nicht genauer bestimmt waren.
Wie gern würde er all das einmal sehen! Sich mit den gewitzten Samarschaner Weisen unterhalten, im warmen Meer baden oder Berge erklimmen. Aber dafür musste er Marcel überzeugen, dass Gris ein Verräter war!
Schließlich erreichten sie den Thronsaal, einen sehr langen Raum mit hoher Gewölbedecke, die von weißen Marmorsäulen getragen wurde. Sie blieben davor stehen. Der Majordomus wies der Delegation Plätze im Saal zu, auf dass sie sich ja nicht mit den Höflingen mischte, die den König erwarteten. Dann zeigte er den Alchimisten noch, wie sie sich zu verbeugen hatten (da die Gildemeister in dieser Beziehung dem Hochadel gleichgestellt waren, brauchten sie sich nur auf ein Knie niederzulassen, alle Übrigen auf beide), wie sie wieder aufzustehen und wie sie den König anzusehen hatten, falls er einen von ihnen etwas fragte (treu und freundlich, aber nicht kriecherisch).
Danach verschwand der Majordomus durch die Tür, die in die königlichen Gemächer führte, und die Warterei begann.
Trix verging fast vor Ungeduld. Gleichzeitig wünschte er sich, Marcel möge nie erscheinen. Er sah sich die Höflinge an. Einige kamen ihm vage bekannt vor. Doch selbst wenn er einen von ihnen kennen sollte – Hilfe konnte er von ihm nicht erwarten. Irgendwann kehrte der Majordomus zurück und stampfte dreimal mit seinem Stock auf den Boden. Stille trat ein. Kurz darauf flog die Tür auf und König Marcel betrat den Thronsaal.
Die Höflinge verbeugten sich oder ließen sich auf ein Knie nieder, je nach Stand und eingeräumten Rechten. Einer blieb sogar stolz erhobenen Hauptes stehen – für den Bruchteil einer Sekunde, damit alle von seinem Privileg erfuhren; dann verneigte auch er sich, schließlich galt es, die Sonderrechte mit Verstand zu nutzen.
Trix ließ sich auf beide Knie nieder, obwohl er sich als Co-Herzog nur tief hätte verneigen müssen, und betrachtete Marcel verstohlen.
Der König beeindruckte ihn wirklich. Er war in mittleren Jahren, korpulent, aber stattlich; die Haare wurden von dem schmalen Reif der Alltagskrone gebändigt und fielen ihm in edlen Locken auf die Schultern. Auf dem ernsten Gesicht lag ein angedeutetes Lächeln, das jederzeit zu einem offenen werden konnte. Diesem Lächeln verdankte er seinen Beinamen. Während er ruhig und selbstbewusst zum Thron schritt, gestattete er einem Höfling mit herrschaftlicher Geste, sich zu erheben, und flüsterte ihm beiläufig etwas zu. Alles in allem war Marcel der Lustige eben ein rundum würdevoller König.
»Seine Majestät König Marcel!«, verkündete der Herold feierlich, der links neben dem Thron stand.
Der König nahm auf dem recht bescheidenen Thron aus poliertem Holz vom weißen Baum Platz. (Einige Dutzend großer schwarzer Brillanten, die im Holz geheimnisvoll funkelten, verhinderten, dass der Thron allzu schlicht wirkte.) Um den Thron herum tauchten förmlich aus dem Nichts Gardisten auf, junge Männer mit undurchdringlichen Gesichtern in leichten Rüstungen aus grauem Leder, die sie nicht in den Bewegungen einschränkten. Der König ließ den Blick über die Anwesenden schweifen und sagte: »Guten Tag, meine Teuren!«
Die Höflinge richteten sich geräuschvoll auf.
»Und auch Ihr, meine nicht weniger teuren … und weit stärker riechenden Untertanen!«, fügte der König hinzu.
Die Alchimisten erhoben sich, die Höflinge kicherten verhalten.
»Wie viel haben wir der Gilde in diesem Jahr für Feuerwerke, Farben, Düfte, Wanzenpulver, Medizin gegen Erkältungen und Gift für den Geheimdienst bezahlt?«, wollte der König wissen.
»Siebentausenddreihundertundsechs Goldtaler!«, antwortete der Majordomus sofort.
»Dann seid Ihr meine wahren Teuren«, bemerkte der König. »Ich höre die verehrten Gildemeister an!«
»Eure Majestät!« Der Alte mit der Glasflasche trat vor. »Der vom Volk so geliebte Feiertag des neuen Jahres rückt näher!«
»Das ist mir doch tatsächlich nicht ganz unbekannt«, bemerkte der König.
»Und Euer Volk, Sire«, fuhr der Alchimist fort, »hat den vergnüglichen Brauch, diesen Tag mit Knallerbsen, einem Feuerwerk und Raketen zu feiern. Doch seit mehr als neun Jahren gilt das Verbot …«
»Schon verstanden.« Der König gähnte. »Hört meine Entscheidung! Das zeitweilige Verbot für besonders laute und bunte Feuerwerke wird aufgehoben …«
»Was?« Der Alchimist war derart überrumpelt, dass er den König unterbrach. Marcel nahm es jedoch nicht übel und lächelte nur. »Das Verbot wird aufgehoben. Mehr noch, ich beabsichtige, in vier Monaten ein großes Fest auszurichten … zu dem Eure Gilde sich aufs Beste vorzubereiten hat. Es werden viele Feuerwerke benötigt!«
Der ganze Saal schwieg ergriffen.
»Zum neuen Jahr wird es allerdings kein Feuerwerk in der Hauptstadt geben«, erklärte der König. »Damit die Königin nicht vor der Zeit niederkommt, wenn sie sich bei all Euren Explosionen und Knallereien erschreckt.«
»Oh, Sire!«, brachte der Alchimist heraus.
Marcel erhob sich. »Freut Euch!«, sagte er feierlich. »Die Königin erwartet einen Thronerben!«
Obwohl es für die Höflinge ganz offenbar keine Neuigkeit war, begrüßten auch sie die offizielle Verlautbarung des Königs mit dem nötigen Jubel. Die Alchimisten brauchten dagegen eine Weile, um die Worte des Königs zu verdauen. Zu Neujahr kein Feuerwerk – was für eine Enttäuschung!
Wenn danach allerdings mit einem noch größeren Fest zu rechnen war …
Nun fingen auch die Alchimisten an zu jubeln.
»Wir wären glücklich, Sire, wenn …«, setzte ein Gildemeister an.
»… Ihr das Feuerwerk kostenlos ausrichten dürft, als Geschenk für den Thronerben«, führte Marcel den Satz zu Ende. »Weiß ich doch. Und ich erlaube es.«
Daraufhin klang der Jubel der Alchimisten etwas gedämpfter.
»Und jetzt«, sagte Marcel, »wo wir die Bitte der Gilde der Alchimisten erfüllt haben, wollen wir Urteile fällen und strafen.«
»Mein Herrscher!«, rief Tiana da. Sie stieß die fassungslosen Alchimisten zur Seite und drängelte sich nach vorn. Trix folgte ihr mit weichen Knien.
Wenn vorhin ergriffenes Schweigen geherrscht hatte, breitete sich jetzt Grabesstille aus. In ihrer Angst schienen die Anwesenden sogar den Atem anzuhalten. Mit einem Mal zerriss ein schmatzendes Geräusch die Stille – und aus dem Mund eines der drei Gildemeister flog sein künstliches Gebiss und schlug polternd auf dem Boden auf. Rasch hielt sich der Mann beide Hände vor den Mund.
Marcel musterte Tiana neugierig und hob die rechte Hand, worauf die Gardisten, die bereits auf die beiden Kinder zueilten, stehen blieben. »Mal was anderes«, sagte er. »Erklär mir doch bitte, mein Junge, was dich auf den Gedanken gebracht hat, du dürftest deinen König unterbrechen!«
»Eure Majestät«, sagte Tiana und neigte den Kopf. »Das Recht, den König zu unterbrechen, wurde meiner Familie von Eurem ruhmreichen Vorfahr gewährt!«
»Ach ja?!« Das Interesse des Königs war geweckt. Er sah den Herold an, der einen Schritt auf ihn zutrat und ihm etwas zuflüsterte. »Diesen Fall gab es nur einmal«, wandte sich der König wieder an Tiana. »Sprich! Wer hat wem unter welchen Umständen dieses Recht eingeräumt?«
»Der große König Marcel der Vernünftige hat es dem ersten Fürsten von Dillon eingeräumt, nachdem dieser den König unterbrochen hatte, als er einen Toast mit einem Pokal vergifteten Weins ausbringen wollte. Marcel der Vernünftige hat damals gesagt: ›Von heute an habt ihr, du und deine Nachkommen, für alle Zeit das Recht, den König zu unterbrechen, wenn seine Worte übereilt oder unvernünftig sind!‹«
»Das Geschlecht der Dillonen hat keine männlichen Nachkommen mehr«, hielt der König dagegen.
»Ich bin auch nicht männlich, mein Herrscher«, erwiderte Tiana. »Falls es dafür eines Beweises bedarf …«
»Es ist nicht nötig, die aufopferungsvolle Tat der Fürstin Codiva zu wiederholen!«, sagte Marcel rasch. »Du willst also behaupten … du seist die Fürstin Tiana!«
Tiana vollführte einen Knicks, was in der Männerkleidung recht komisch wirkte.
»Und du willst weiter behaupten … Fürstin … dass meine Worte übereilt und unvernünftig waren?«
»Ja, mein Herrscher!«, sagte Tiana tapfer.
Der König ließ seinen Blick zu Trix weiterwandern. »Und du, Jüngling …« Plötzlich stockte er und sah Trix misstrauisch an. »Oder bist du auch eine junge Dame?«
»Ich bin Trix Solier, der Erbe des Co-Herzogs Rett Solier, der von dem Verräter Sator Gris heimtückisch ermordet wurde!«, rief Trix, bevor er hinzufügte: »Sire!«
Es mag seltsam klingen, aber: Der König amüsierte sich. »Herrlich!«, sagte er. »Nie im Leben hätte ich geglaubt, dass der heutige Tag derart viele Überraschungen für mich bereithalten würde! Wie seid ihr in die Gilde der Alchimisten gekommen?«
»Durch Betrug, Sire«, gab Tiana zu. »Diese guten Menschen trifft keine Schuld, sie wussten nicht, wer wir sind.«
»Gut, dann wollen wir die Bühne mal räumen«, erklärte der König, während er es sich auf dem Thron gemütlich machte. »He, Alchimisten, raus mit Euch! Die Höflinge ebenfalls! Mir einen Pokal mit Stachelbeersaft! Und die Familie Gris soll herkommen! Und Sauerampfer mit seinem Schüler aus dem Kerker auch! Halt! Wer ist das – wenn du Trix bist?«
»Mein treuer Knappe Ian«, antwortete Trix. »Er hat sich für mich ausgegeben, um mich vor Verleumdung und Gefängnis zu bewahren, Sire.«
»Was das Gefängnis angeht, da hast du recht, was die Verleumdung angeht – das wird sich noch zeigen«, erwiderte Marcel lächelnd. »Also, Sauerampfer und der falsche Trix sollen sich waschen, etwas essen und zur Hand sein, aber noch nicht in den Saal gebracht werden!«
Die Alchimisten warfen einen letzten entsetzten Blick auf Trix und Tiana, bevor sie aus dem Saal getrieben wurden. Sie ließen ihre Gefäße und Böller fallen und die Filzpantoffeln rutschten ihnen von den Füßen. Die Höflinge, die den Ernst der Lage sofort begriffen hatten, brauchte man dagegen nicht lange zu bitten; sie zogen sich sofort im Rückwärtsgang und in gebeugter Haltung zurück.
»Ihr könnt diese blöden Pantoffeln ausziehen«, gestattete Marcel ihnen, als ihm der Pokal mit Saft gebracht wurde.
»Als Aristokraten habt Ihr das Recht, das Parkett zu zerkratzen.«
»Eure Majestät«, mischte sich da der Majordomus ein, »noch ist doch gar nicht bewiesen, dass sie diejenigen sind, für die sie sich ausgeben.«
»Ja und?« Der König zuckte die Achseln. »Wenn sie mich getäuscht haben, haben wir nur einen Grund mehr, sie zu köpfen.«
»Eure Majestät, erlaubt mir, Euch alles zu erzählen!«, bat Trix. Im Saal waren nur noch er, Tiana, der König, der Majordomus und der Herold. Und natürlich die Gardisten. Ihre Zahl hatte sogar zugenommen, es waren jetzt mindestens zwanzig Mann, darunter auch einige Zauberer, die ihre Bücher mit Zaubersprüchen im Anschlag hielten.
»Warte!«, verlangte der König. »Es ist unschön, jemanden in Abwesenheit des Verrats zu beschuldigen. Gris ist gleich da, dann kannst du alles erzählen.« Dann wandte er sich wieder Tiana zu. »Und was hast du mir zu sagen, Fürstin Tiana? Ich hatte doch befohlen, dass du in einer wichtigen diplomatischen Mission zu den Kristallenen Inseln aufbrichst. Was also hast du hier verloren?«
»In einer wichtigen diplomatischen Mission?«, fragte Tiana zurück. »Versteht Ihr darunter etwa die Ehe mit dem Vitamanten Evykait?«
Im Gesicht des Königs zuckte nicht ein Muskel. »Ja, mein Kind. Offen gesagt genau das. Dem Königreich drohen zahlreiche Gefahren und in dieser Situation brauchen wir einen sicheren Frieden mit den Kristallenen Inseln. Die Vitamanten haben verlangt, den Friedensvertrag durch eine Ehe zu besiegeln, wie es seit Anbeginn der Zeiten üblich ist. Du bist das einzige Mädchen, das ausreichend hochwohlgeboren ist, um Evykaits Eitelkeit zu genügen. Außerdem bist du aus dem Kindesalter heraus und noch nicht durch eine Ehe gebunden.«
»Und obendrein eine Waise, die niemand beschützt, Sire«, sagte Tiana verwegen.
»Ja, mein Kind«, erwiderte Marcel gelassen. »Auch damit hast du recht. Ich habe einige Stunden über einer Liste mit den Namen hochwohlgeborener Mädchen gebrütet und keine Alternative gefunden. Es gab Mädchen, die mit Freude einer Ehe mit dem Oberhaupt der Vitamanten zugestimmt hätten, aber sie waren von zu niedrigem Stand. Es gab ein paar junge Frauen, bei denen ich mir den Zorn der Eltern zugezogen hätte, wenn ich sie zu Evykait geschickt hätte. Du warst die beste Wahl. Und ich war überzeugt, dass die Fürstin von Dillon mich verstehen wird. Also, warum bist du hier und nicht auf den Kristallenen Inseln?«
»Dieser edle Jüngling hat mich gerettet!«, sagte Tiana und zeigte auf Trix.
»Allein?«, wollte Marcel wissen.
»Völlig allein, Sire!«, sagte Trix kühn.
»Bemerkenswert.« Marcel schüttelte den Kopf. »Wozu habe ich eigentlich eine Armee, wenn ein einzelner Junge imstande ist, ein ganzes Schiff voller Vitamanten und mit Gavar an Bord zu entern? Übrigens, wo ist Gavar?«
»Ich nehme an, er läuft über den Meeresboden zu den Kristallenen Inseln«, sagte Trix. »Falls er nicht inzwischen von einem Hai gefressen wurde.«
In den Augen des Königs spiegelten sich Zweifel und Respekt zugleich wider. »Ein Hai? Den wird er eher selbst gefressen haben! Gut, lassen wir das. Warum hast du dich gegen mich aufgelehnt und Tiana nicht fahren lassen?«
»Wenn ich darauf antworte, verstoße ich gegen Euren Befehl, Sire«, sagte Trix. »Dass ich einen Adligen nicht in Abwesenheit des Verrats beschuldigen soll, Sire.«
»Ich habe ja nicht damit gerechnet, dass wir so lange auf den verehrten Gris warten müssen!«
Die nächsten Minuten schwiegen sie. Marcel trank in kleinen Schlucken seinen Saft und sah immer wieder Trix und Tiana an. Die Gardisten, der Majordomus und der Herold warteten einfach. Plötzlich hörte Trix hinter sich das Scharren von Füßen und das Rascheln von Stoff, traute sich jedoch nicht, sich umzudrehen. Irgendwann rempelte ihn dann jemand recht unfeierlich an und nuschelte: »Beiseite, edler Herr!«
Trix machte Platz und drehte sich um. Vor sich hatte er eine ältere Frau mit einer birnenähnlichen Figur, die mit einem Lappen das Parkett traktierte. Nachdem sie den Dreck mehr oder weniger gleichmäßig verteilt hatte, schob sie Trix den Lappen hin und verlangte: »Die Sohlen abgewischt, edler Herr!«
Marcel schielte zum Majordomus und fragte flüsternd: »Kann man das nicht zu einer anderen Zeit machen?«
»Das ist so Tradition, Sire«, erklärte der Majordomus. »Nach Abzug des einfachen Volks ist sofort der Boden zu wischen.«
»Aber das ist doch absurd«, sagte Marcel. »Warum muss ich mir diese … diese alte Schrecksch…«
Die Frau schielte finster zum König hinüber.
»… diese energische … Dame ansehen?«, brummte der König. »Die obendrein ebenfalls aus dem einfachen Volk ist!«
»Oh, nein, das ist die älteste Hofdame.«
»Absurd«, stieß der König aus.
Die älteste Hofdame wrang den Lappen über ihrem Blecheimer aus und entfernte sich. »Kommt ja jenner und henner«, knurrte sie.
»Oh nein, mein Herrscher, das ist nicht absurd«, sagte der Majordomus. »Das ist schlimmer. Das ist Tradition.«
Marcel sah Trix an und sagte: »Hast du etwa geglaubt, Jüngling, ein König habe es leicht?«
»Nein, Sire«, antwortete Trix.
Die Antwort brachte Trix einen wohlwollenden Blick des Königs ein. »Mal ganz ehrlich!«, sagte er. »Hast du die Vitamanten wirklich allein besiegt?«
»Verzeiht, Sire, aber darauf kann ich nicht ganz ehrlich antworten«, gestand Trix.
»Du gefällst mir«, sagte Marcel nach kurzem Schweigen. »Schade, dass ich dich zum Tod verurteilen muss. Weißt du was«, gab der König einem Anflug von Inspiration nach, »ich werde dich nicht köpfen! Keine Angst! Selbst wenn ich offiziell sage, ich köpfe dich, werde ich dir insgeheim einen Empfehlungsbrief und etwas Geld geben. Dann kannst du unter fremdem Namen bei einem reichen Kaufmann unterkommen.«
In dem Moment glaubte Trix, er würde den Verstand verlieren. Hatte er all das auf sich genommen, die Zauberei erlernt, sich in die Fürstin verliebt – nur um am Ende wieder da zu landen, wo er unmittelbar nach dem Putsch gestanden hatte?
Zum Glück betraten – genauer gesagt: stürmten – jetzt zwei keuchende Menschen den Thronsaal. Auf einen Wink Marcels bauten sich Sator und Derrick Gris neben Trix und Tiana auf.
»Ihr habt befohlen, umgehend zu kommen, Sire.« Sator Gris verbeugte sich tief. Da er dabei jedoch den Kopf zurückbog und Trix anstarrte, verlor er das Gleichgewicht und schlug in voller Länge auf dem Boden auf.
»Übertreibt nicht, Sator!« Marcel verzog das Gesicht. »So braucht Ihr nicht vor mir zu katzbuckeln, das mag ich nicht.«
»Sire! Das ist Trix Solier, Sire!«, rief Sator, während er aufstand.
»Danke«, erwiderte der König, »damit habt Ihr seine Identität bestätigt. Wir hatten noch Restzweifel.«
»Aber … er sollte doch verhaftet sein … in Ketten liegen … geknebelt! Sire, das ist ein gefährlicher Zauberer!«
»Willst du deinem König etwa sagen, was er zu tun hat?«, fragte Marcel mit erhobener Stimme.
Darauf sagte Sator kein Wort. Derrick starrte Trix nur wortlos an.
»Und jetzt rede, Trix Solier!«, befahl Marcel.
»Mein Herrscher!« Trix blickte dem König direkt in die Augen. »Ja, ich habe der Fürstin Tiana bei der Flucht geholfen. Aber ich habe das nur getan, weil ich von einem gemeinen Verrat und einer Verschwörung gegen König und Krone erfahren habe!«
»Das wird ja immer besser!«, sagte Marcel. »Nun höre ich schon zum zweiten Mal von Verrat, diesmal sogar von dem Menschen, der selbst des Verrats angeklagt ist. Weiter!«
»Eure Majestät!«, fuhr Trix fort. »Ich weiß, dass der Co-Herzog Sator Gris geheime Verhandlungen mit den Vitamanten geführt hat. Er hat seinen Mitherrscher Rett Solier beseitigt, der Euch treu ergeben war. Nun soll die Armee der Vitamanten am Westufer des Co-Herzogs aufziehen. Das ist aber nur der erste Schritt, Ziel ist die Eroberung des gesamten Königreichs. Gris hat Eure Wachsamkeit mit dem Friedensvertrag abgelenkt. Außerdem sollte die unvorteilhafte Ehe von Evykait und Tiana seinem Vorgehen einen legalen Anstrich geben. Aber die Vitamanten wollen mit Gewalt alle Macht im Königreich an sich reißen!«
»Das willst du wissen?«, rief Sator.
»Meine Wachsamkeit abgelenkt?«, brüllte Marcel.
»Unvorteilhaft?«, fragte Tiana beleidigt.
»Sicher«, antwortete Trix ihr leise. »Evykait kann dir doch nicht das Wasser reichen!«
Der Herold hinterm Thron nickte Trix aufmunternd zu und zeigte ihm den erhobenen Daumen.
Marcel erhob sich. Sein Gesicht war puterrot vor Zorn, seine Hände zu Fäusten geballt. »Das ist eine schreckliche Anklage, Co-Herzog Solier!«, donnerte er. »Und wenn sie sich als zutreffend herausstellen sollte …«
»Das ist eine fürchterliche Verleumdung!«, stöhnte Sator. »Ich bin unschuldig! Das ist Verleumdung, nichts anderes!«
»Welchen Beweis hast du für deine Worte?«, wollte Marcel wissen.
»Mein Herrscher, wenn Ihr die Gemächer der Gris’ durchsuchen lasst und die Diener befragt, kommt die Wahrheit ans Licht!«, versicherte Trix.
»Den Minister der Geheimkanzlei zu mir!«, brüllte Marcel.
Hinter dem Thron trat gemächlich ein kleiner, magerer Höfling mit gelangweiltem Gesicht hervor, den zuvor niemand bemerkt hatte.
»Die Untersuchungsrichter sind bereits in die Repräsentanz der Co-Herzöge Solier und Gris geschickt, Sire«, teilte er leise mit. »Die Zauberer der Kanzlei sind per Teleportation ins Co-Herzogtum aufgebrochen und führen dort eine Untersuchung bei Hofe durch.«
»Wie lange wird das dauern?«, fragte Marcel.
»Die Untersuchungsrichter brauchen eine Stunde, Eure Majestät«, antwortete der Minister der Geheimkanzlei. »Die Zauberer werden gegen Abend wieder hier sein.«
»Hervorragend«, befand der König. »Dann … mein Mittagessen. Hierher! Und dass mir keiner die Leute aus den Augen lässt!« Er zögerte kurz, bevor er sanfter hinzufügte: »Das Mittagessen für zwei Personen und für die Fürstin Tiana einen Stuhl. Die andern können stehen!«
Sator, dessen Gesicht inzwischen rot und weiß gefleckt war, blickte Trix hasserfüllt an. Derrick war kurz davor, in Tränen auszubrechen.
Trix fühlte sich auch nicht gerade wohl.
Gewiss, er hatte sein Ziel erreicht. Marcel der Lustige hatte sich für die fiktive Verschwörung interessiert.
Aber was, wenn der Minister der Geheimkanzlei ihren Betrug aufdeckte?
Darüber wollte er lieber nicht nachdenken.

4. Kapitel